In unserer Schule gehört das Erzählen von Geschichten zum Alltag. Doch nicht immer erscheint etwas davon in den Heften der Schüler*innen und so entgeht den Eltern meist, was ihre Kinder zuhörend erleben und in welche Welten sie dabei eintauchen. Der Stellenwert des Geschichtenerzählens macht jedoch die Qualität der Waldorfpädagogik mit aus. Betrachtet man, wie der Erzählstoff sich von der 1. bis zur 8. Klasse verändert, so hat man eine Entsprechung zur Entwicklung des Kindes und zu den Impulsen, die man ihm dafür geben möchte.
Haben wir nicht alle den Hunger nach Fantasiebilder, den Wunsch im Seeleninneren berührt zu werden, sich selbst in den Gestalten der Erzählungen zu spiegeln, in eine andere Welt einzutauchen, den Horizont zu erweitern, den Wusch nach neuen Blickwinkel. Das gilt für die Erzähler*innen wie für die Zuhörer*innen sowie für die Leser*innen.
Wie kann man nun diesen Bedürfnissen der Menschen und vor allem unserer Kinder gerecht werden?
1. Klasse: Märchen, Geschichten über die Natur in Märchenstimmung
Im Märchen darf das Gute siegen, wie es jeder Mensch im Grunde seines Herzens wünscht. Dabei wird die ganze Dramatik des menschlichen Seelenlebens ins Bild gebracht: Mut, Scham, Stolz, Herzlosigkeit, Reue, Gier, Mitgefühl, Lüge, List, Unerschrockenheit.
Hier liegt die Basis für moralische Erziehung und Umwelterziehung ohne zu theoretisieren oder zu moralisieren. Alles in der Natur spricht noch sehr unmittelbar zum Kind und so kann es sich voll Staunen und Respekt vor Wind oder Sonne, Katze oder Rose durch bildhafte sinnige Geschichten einlassen ja verbinden.
2. Klasse: Tierfabeln, Heiligenlegenden, Naturlegenden, Tiermärchen
Die nächste Stufe der Seelenbildung passiert in einer stärkeren Kontrastierung von Vollkommenheit und Unvollkommenheit:
Über die Schwächen der Tiere kann man lachen, damit löst sich die Unsicherheit, man hat etwas durchschaut. Vieles haben die Heiligen auf sich genommen, aber sie haben ihr Ideal nie ganz aus den Augen verloren: wie z. B. Franz von Assisi.
3. Klasse: Geschichten aus dem Alten Testament und Handwerkergeschichten
In der 3. Klasse, um das 9. Lebensjahr herum, verändert sich das Verhältnis des Kindes zu sich und zur Welt. Die kindliche Unbefangenheit fehlt plötzlich, Selbstzweifel entstehen, soziale Spannungen und Schwierigkeiten, aber auch Widerspruchsgeist zeigen sich. Die Erwachsenen werden kritisch hinterfragt. Das Kind sucht aber auch nach einem neuen Halt. In der Weltenschöpfung aus der Sicht des Alten Testaments erstrahlt die Welt mit all ihren Pflanzen, Tieren, den Gestirnen und zuletzt mit dem Menschen in all ihrer Schönheit
Die Entwicklung des Handwerks, der Musik, des Ackerbaus und der Viehzucht bis hin zu den 10 Geboten, die eine klare ethische Orientierung geben. Auch in Verbindung mit den vielen praktischen Tätigkeiten (Ackerbau, Handwerk) kann das Kind Ehrfurcht vor der Welt und Respekt vor der Kraft und Arbeit des Menschen gewinnen. Indem es selbst auch richtig zupacken und arbeiten darf wie ein Bauer oder ein Tischler, kann es in sinnvoller Tätigkeit Selbstbestätigung finden.
4. Klasse: Nordische Göttersagen, Heldensagen der Germanen und Kelten (Gralssagen)
Die Weltenschöpfung aus einer ganz anderen Perspektive findet sich in der Edda. Durch Lokis List und Bosheit kommt es zur Götterdämmerung und zum Untergang, dem aber ein Neuanfang folgt mit dem Menschenpaar, das in der Weltenesche Yggdrasil verborgen gewartet hat. In der 4. Klasse steht dem Kind ein neues Maß an Tatkraft zur Verfügung und darf exemplarisch, an der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend, die Bilder der Edda durchleben.
In der 5. Klasse wird im Geschichtsunterricht die Urgeschichte der alten Völker von den Indern bis zu den Griechen behandelt. Wieder werden aus anderer Perspektive Schöpfungsmythen erzählt, werden Götter- und Heldensagen aus verschiedenen Kulturen behandelt bis hin zu den lebensfrohen, diesseitsgewandten Griechen.
Das setzt sich in der 6. Klasse zuerst noch mit den Sagen der Römer fort und bekommt dann bis zur 8. Klasse zwei neue Schwerpunkte: die Kulturen der Völker (aus allen Kontinenten) und Biografien.
Warum das alles?
Wie eben dargestellt, bekommt das Kind aus dem altersgemäßen Erzählstoff Impulse, die es für seine Entwicklung gut gebrauchen kann. Dazu kommt aber aus meiner Sicht das Folgende: War es in früheren Zeiten der berechtigte Wunsch den Menschen in seiner Kultur, seiner Volksgemeinschaft zu verankern, so ist es nun zeitgemäß ein Weltenbürger zu werden, die verschiedensten Sichtweisen einzunehmen, die menschliche Kultur in ihrer Vielfalt kennenzulernen, die unterschiedlichsten Lebenswege von Menschen nachzuempfinden. Die innere Beweglichkeit, die im Nacherleben all dieser Mythen und Sagen entsteht, sowie der Schatz an Bildern, Geschichten und Biografien sind eine gute Basis für das Ergreifen der eigenen Lebensaufgaben und für das fantasievolle Entwickeln neuer Vorstellungen und zukünftiger Lösungen.
Heike Braun